Dass der Weg nach und durch Frankreich führen sollte, war alles andere als klar. In Trier überlegte ich lange und intensiv, wie und ob meine Reise weitergeht. Und – ich musste auch erst einmal realisieren welche Strecke bereits hinter mir liegt. Viele Möglichkeiten buhlten um Beachtung. Optionen über Optionen eröffneten sich mir.
Wenn man einmal in die Welt des Pilgerns eingetaucht ist und sich den vielen Wegen und Möglichkeiten gegenübersieht, wird die Entscheidung oft nicht einfacher. Wie im wahren Leben.
Zum Beispiel überlegte ich, ob es besser wäre, in Deutschland zu bleiben. Aufgrund der nicht kalkulierbaren Corona-Entwicklung kein abwegiger Gedanke. Doch welchen Weg in Deutschland nehmen? Nach der Ost-West-Route, vielleicht die Nord-Süd-Route? Oder einen ganz anderen Weg?
Vielleicht könnte ich nach Rom laufen? Eine interessante und sehr reizvolle Überlegung. Ich liebe Rom. Oder doch weiter durch Frankreich? Aber welche Route von den beiden sehr bekannten über Le Puy en Velay oder Vezelay? Oder gibt es noch andere spannende Optionen?
Schlussendlich war es eine Entscheidung, wieder dem ersten Impuls und dem Herzen zu folgen. Der Impuls hieß Paris. Am zweiten Tag meiner Reise machte ich Rast in dem kleinen sächsischen Ort Wurschen und lass die damit zusammenhängende Geschichte zu Napoleon, einer Gravur und dem Triumphbogen in Paris.
Dort hatte ich den verwegenen Gedanken – den ich jedoch gleich wieder verwarf, mich von der im Reiseführer beschriebenen Geschichte persönlich überzeugen zu wollen. Vollkommen verrückt. Egal. Nun fiel die Entscheidung, auf Paris.
Einen richtigen Pilgerweg von Trier nach Paris habe ich nicht klar erkennen können. Ab Paris hätte ich dann die Möglichkeit, der Via Turonensis, der längsten und nördlichsten Pilgerroute durch Frankreich, zu folgen.
Via Turonensis? Die Suche nach Informationen oder Reiseführern zu diesem Weg gestaltete sich äußerst schwierig. Diese Strecke, obwohl eine der ältesten Pilgerrouten durch Frankreich überhaupt, war offensichtlich nicht sonderlich populär zurzeit. Nur vereinzelt fanden sich Informationen zu diesem Weg.
Im Gegensatz zu den weit häufiger begangenen Routen über Vezelay oder Le Puy, eine kleine Puzzlearbeit – die wichtigsten Details zu einem Ganzen zusammenzufügen. Aber die Entscheidung stand – trotz oder vielleicht auch gerade wegen des Unbekannten.
Aufgrund der nicht kalkulierbaren Corona Situation unterteilte ich die Strecke in verschiedene Abschnitte, die ich Stück für Stück erreichen wollte.
Wenn ich Glück hatte, könnte ich nach Reims und Paris auch Orleans und Tours erreichen. Wenn ich ganz großes Glück haben sollte, vielleicht auch Cognac und Bordeaux. Wow – was für eine Strecke das wäre.
Aber wer weiß denn schon, was noch alles so passiert? Denn bis Bordeaux wären es nochmals mehr als 1.000 km, quer durch bereits existierende oder sich noch entwickelnde Corona-Risikogebiete…
Grand Est / Marne
Reims. In der Champagne wurde ich für ein Wochenende zum Luxus-Pilger, denn ich folgte einer Einladung der Familie meines Bruders, ein entspanntes Champagner-Wochenende mit ihnen zu verbringen. Wie könnte man da ablehnen? Und so folgten entspannte Tage in einer Jugendstil-Villa-Herberge mit einer freundlichen, eleanten und sehr distinguierten Gastgeberin. Eine willkommene Abwechslung zu den teilweise sehr bescheidenen Pilgerunterkünften. Auch das Erlernen des Sabrierens – dem Öffnen einer Champagnerflasche mit dem Säbel, darf ich seit diesen Tagen zum Reportoire meiner Fähigkeiten zählen. Echtes know how, welches man als Pilger eben so benötigt…
Später ging es weiter nach Paris, meinem ersten Impuls folgend. Am Arc de Triomphe überzeugte ich mich davon, ob der Ort Wurschen auch wirklich im Triumphbogen verewigt ist. Dort schloss sich ein Kreis, der im Osten Deutschlands begann und in Paris endete.
Kurz vor Ankunft in Paris wurde die Stadt zur „Zone rouge“ erklärt, also zum Covid-Hochrisikogebiet. Daher verließ ich die französische Hauptstadt bereits am nächsten Tag.
Via Turonensis / GR 655
(Französischer Abschnitt der Via Regia)
Île-de-France / Centre-Val de Loire / Nouvelle-Aquitaine / Okzitanien
Von Paris ging es weiter, der Via Turonensis / GR 655 folgend, über Orléans, Tours, Poitiers, Saintes/ Cognac, Bordeaux. Bordeaux war ein weiterer Meilenstein. Hier traf ich die Entscheidung, ob die Reise enden oder ob sie fortgesetzt werden sollte. Die Wahl fiel auf die Fortsetzung und der Ungewissheit, ob es überhaupt ein Weiterkommen gibt.
1.500 Kilometer – drei (3) Pilger
Ab Ankunft Paris verschärften sämtliche Régions und Départements nach und nach die Regeln. Immer öfter konnte nur noch von Tag zu Tag geplant werden. Gefühlt in jedem zweiten Ort rieten die Menschen abzubrechen und umzukehren. Etliche Herbergen, Kirchen, Klöster, ja selbst Hotels oder Tourismusbüros, hatten geschlossen. Hotels machten nur am Abend auf, in der Hoffnung, wenigstens Abendessen verkaufen zu können.
In den Tourismus-Büros der größeren Städte konnte man nur selten weiterhelfen. Selbst im Internet gab verhältnismäßig wenige Daten zu diesem Weg. Die Begegnung mit insgesamt drei (3) Pilgern auf fast 1.500 km durch Frankreich sprechen eine deutliche Sprache.
Pilger Nummer eins begegnete ich in Reims. Dieser hatte jedoch Rom als Ziel. Daher trennten sich unsere Wege bereits am selben Tag wieder. Pilger Nummer zwei begegnete mir in Tours. Dieser kam aus dem Norden, genauer aus der Normandie, vom Le Mont-Saint-Michel. Seine Reise endete in Tours. Dem dritten Pilger begegnete ich erst hinter Bordeaux, genauer in Gradignan. Mit ihm lief ich drei Tagesetappen, bevor sich unsere Wege trennten.
Lourdes
Da es immer unklarer wurde, ob es überhaupt ein Weiterkommen geben würde und um nicht irgendwo im Nirgendwo die Reise zu beenden, wählte ich den berühmten Wallfahrtsort Lourdes als Ziel und Ende meiner Reise.
Lourdes befindet sich nicht auf der Via Turonensis, sondern etwas abseits, am GR78 gelegen. Ich habe es nach Lourdes geschafft, dort gebetet, Kerzen entzündet und der Lichterprozession beigewohnt. Sogar eine Pilgerurkunde erhielt ich dort.
Der Kilometerstein
Auf dem Weg nach Lourdes jedoch erlebte ich meinen persönlichen Schlüsselmoment, der alles verändern sollte. In Moustey, einem kleinen Ort im Département Landes, irgendwo zwischen Bordeaux und Dax, entdeckte ich vor der dortigen Kirche einen Kilometerstein. „Moustey – Compostella – 1000“ – war dort eingraviert. Zu diesem Zeitpunkt lagen bereits mehr als 2.000 km hinter mir.
Für mich war dieser Kilometerstein ein Zeichen, der nicht zufällig dort stand. Mir war klar; ich muss weiterlaufen. Ich kann und darf nicht abbrechen. Diese 1.000 km schaffe ich auch noch. Und so hatte ich ein neues Ziel – Santiago de Compostela.
Lehrreichste Zeit
Rückblickend war gerade der Weg durch Frankreich die lehrreichste Zeit der gesamten Reise. Frankreich war größte Herausforderung, einsam und wunderschön. Am Ende aber siegte immer der Wille und der Wunsch weiterzumachen – bis es wirklich nicht mehr geht. Wohl auch aus diesem Grund sind die Erlebnisse und Erinnerungen aus Frankreich noch intensiver und präsenter.
Feststellung: Was ich erst später bemerkte: Verließ ich hinter Eisenach die Via Regia, stieß ich in Paris wieder auf diese Route. Sie sollte mich bis nach Santiago de Compostela führen. Denn sowohl die Pilgerwege Via Turonensis in Frankreich, als auch der Camino Frances in Spanien, sind Teile der Via Regia – der ältesten und längsten Landverbindung zwischen Ost- und Westeuropa. Ich folgte also mehr als 2.000 Jahre alter Geschichte. Eine Pilger-, Genuss- und Kulturreise – auf dem Weg der Könige, der Ritter, der Pilger.