Auf der letzten Tagesetappe in Frankreich machte ich Rast auf einem Berg mit toller Aussicht, als plötzlich, wie aus dem Nichts ein Pilger auftauchte. Ein Pilger! Das wäre ja Pilger No.4 in Frankreich. Wow. Was mache ich denn jetzt? Etwas unsicher schaute ich mich um. Und dann – plötzlich noch ein Pilger – und dann noch einer und dann eine ganze Gruppe.
Innerhalb kürzester Zeit war ich umgeben von mehr als 10 Pilgern, die alle auf diesem Berg Rast machen wollten. Sind mir in ganz Frankreich nur drei Pilger begegnet – waren es jetzt auf einen Schlag 10 und mehr.
Bei Ostabat treffen die drei französischen Pilgerwege aufeinander. Die Via Lemovicensis von Vézelay kommend, die Via Podiensis aus Le Puy en Velay und die Via Turonensis, auf welcher ich unterwegs war. Somit wurde es ab diesem Zeitpunkt auch deutlich voller auf dem Weg. Und auch die Infrastruktur und die Ausschilderung wurden besser und deutlich mehr an die Pilger angepasst. Ab diesem Moment war ich nicht mehr allein – auch wenn ich noch allein lief.
Auch wenn es mir vorher bereits bewusst war – spätestens hier war klar- Spanien wird nochmals ganz anders als die bisherigen Etappen. Durchquerte ich Frankreich z.B. noch in Tagesetappen mit verhältnismäßig moderaten Geschwindigkeiten und Distanzen – sollte sich das in Spanien grundlegend ändern.
Und nun also Spanien. Ohne Reiseführer, ohne ein Wort Spanisch zu sprechen. Spanien war gar nicht geplant. Die Entscheidung fiel schnell auf den wohl bekanntesten Weg und den Mythos schlechthin, den Camino Frances, und das aus mehreren Gründen.
In normalen Jahren wäre ich diese Strecke nicht gelaufen. Keine einhundert Pferde hätten mich dazu bringen können. Die riesige Anzahl der Pilger, welche inzwischen auf diesem Weg unterwegs sind, hätte mich definitiv abgeschreckt. Bereits vor einiger Zeit hatte ich gehört, dass dieser Weg überlaufen und sehr „touristisch“ geworden sein soll. Jedoch, was in normalen Jahren abschreckend gewesen wäre, sollte in diesem Jahr ein Vorteil sein.
Ein sehr gut ausgebautes Netzwerk an Unterkünften, gute Infrastruktur und die Chance auf sozialen Kontakt mit anderen Pilgern, die des Spanischen mächtig sind, zu begegnen, waren Argumente für diese Route.
Camino Frances
(Spanischer Abschnitt der Via Regia)
Auch hier spürte man die Corona-Angst. Vor Eintreten in die Herbergen digitales Fiebermessen, Desinfektion der Schuhe, des Rucksacks, große Mülltüten, in denen der Rucksack transportiert werden sollte, abgesperrte Bäder, Küchen, Gemeinschaftsräume, Sitzgelegenheiten, auf die Hälfte reduzierte Kapazitäten. Mehr als die Hälfte der Herbergen waren zudem komplett geschlossen.
Ist es in normalen Jahren gar nicht möglich, vorab eine Herberge zu reservieren, so war es nun unumgänglich. Begrenzte Kapazitäten, geschlossene Herbergen, Bars und Restaurants überall. Ganze Gebiete und Städte wurden kurz nach dem Durchqueren abgeriegelt. Jeden Tag gab es neue, teils vollkommen verschiedene Informationen. Jeden Tag musste neu geplant werden.
Marathon Man
Um es rechtzeitig nach Santiago de Compostela zu schaffen, wurden an manchen Tagen Etappen bis zu 40 km zum Marathon. Die letzten 450 km, von Burgos nach Santiago, gab es keinen Tag Pause mehr. Das entspricht der Strecke des Ökumenischen Pilgerweges bzw. des ostdeutschen Abschnittes der Via Regia, welcher anfangs das eigentliche Ziel war.
Santiago de Compostela
Die letzten Tage vor dem Erreichen von Santiago de Compostela schleppte ich mich von Tag zu Tag. Eine starke Erkältung und ich rangen intensiv um die Oberhand. Erst in dem Moment, in dem ich mit wenigen Mitpilgern auf dem leeren Platz vor der Kathedrale stand, habe ich begriffen, welcher Weg, welche Strecke hinter mir liegt.
Im wie leergefegten Pilgerbüro, an diesem Tag war ich Pilger Nr. 50 von nur 84, bestätigte man mir 3.300 gelaufene Kilometer. Zum ersten Mal sah ich nun diese Zahl – schwarz auf weiß – vor mir. Festgehalten auf dem Certificate of Distance.
Nach dem Verlassen des Pilgerbüros wollten auf mich wartende Mitpilger wissen, wie ich mich fühle. Ich konnte nur antworten: „Sie haben mir…“ – Dann brach es aus mir heraus. Vollkommen ungefiltert. Überwältigt von Gefühlen ließ ich meinen Tränen freien Lauf.
Alles anders
In Santiago de Compostela herrschte keine feierliche Stimmung. Sonst wahrscheinlich ein Ort des Glücks und der Lebensfreude war die Stadt praktisch leer. Es lag nur ein grauer, wolkenverhangener und verregneter Himmel über der Stadt. Viele Geschäfte und Bars hatten schon lange geschlossen. Die meisten der ohnehin wenigen Pilger und Touristen reisten wegen der sich verschärfenden, nicht einzuschätzenden Corona-Situation in Europa zügig wieder zurück.
Wilde, teils komplett verschiedene Gerüchte kursierten. Niemand wusste, wie sich die nächsten Tage entwickeln sollten. Ob im Tourismusbüro, im Pilgerbüro oder bei der Polizei – überall gab es unterschiedliche, teils widersprüchliche Aussagen. Eine Vielzahl, teils abenteuerlich anmutender Ideen, wie und wo man während der kommenden Wochen bleiben könnte, machten unter einigen Pilgern die Runde.
Auch ich überlegte intensiv und wog das für und wider ab. Wie immer gab es viele und starke Argumente, die für beide Seiten. Schneller Heimweg oder bleiben. Dennoch spürte ich, nach Monaten zu Fuß unterwegs, konnte ich nicht einfach ins Flugzeug oder in den Zug steigen um innerhalb weniger Stunden wieder „zurück“ sein. Körperlich wäre das kein Problem gewesen, mental wollte ich mir das nicht antun.
Und so entschied ich mich, nach einer weiteren Entscheidung, nach einigem hin und her, den Weg Freestyle fortzusetzen und die Reise langsam ausklingen zu lassen.