Dirk Naumann
Bon Courage
Trio Infernale
Désolé – Occupé – Fermé – („Désolé“ – Es tut mir/ uns leid – „Occupé“ – belegt / ausgebucht“ – „Fermé“ – geschlossen)
Diese drei Worte waren mein persönliches Trio Infernale, das mich durch ganz Frankreich begleiten sollte. Nur selten, dass ich diesen Worten entkommen konnte. In den meisten Fällen traten sie im Doppelpack auf, bestehend aus,
„Désolés, nous sommes fermé“ (Es tut uns leid, wir haben geschlossen)
oder
„Desolés, nous sommes occupé“ (Es tut uns leid, wir sind ausgebucht.)
An den meisten Tagen begegnete mir dieses Trio mehrmals. Denn, es mussten praktisch alle Unterkunftsmöglichkeiten im Ort selbst und oft im Umkreis von 5 bis 10 km angerufen werden. Selbst die mairies (Stadtverwaltung / Rathaus) und/ oder offices de tourisme (Touristeninformation) und/ oder die Polizei / Gendarmerie, die Frankreich ebenfalls weiterhelfen, fanden irgendwann immer seltener eine Lösung. In normalen Jahren, wenn das Angebot an Unterkünften umfangreicher und die Situation entspannter ist, zeigt sich das Dreiergespann sicher deutlich weniger. Aber gerade das Covid-Jahr 2020, in Verbindung mit der Routenwahl, der verhältnismäßig wenig Begangenen Via Turonensis, sorgte für diese Konstellation.
Je länger ich durch Frankreich lief, desto mehr Régions (Verwaltungsregion) und Départements (Region innerhalb einer Verwaltungsregion) wurden wieder zu Risikogebieten erklärt. Überall diese feinen, nicht sichtbaren Grenzen – welcher Ort gehört zu welchem Arrondissement, welches Arrondissement gehört zu welchem Department, welches Department gehört zu welcher Region? Welche Grenzen könnten möglicherweise, zeitnah wieder geschlossen werden Usw. Damit verbunden – je mehr Unterkünfte, die vor einiger Zeit, vielleicht noch mit reduzierter Kapazität geöffnet hatten, schlossen wieder. So auch Kirchen und Klöster. Selbst Tourismusbüros hatten teilweise bereits geschlossen. Einige wenige Hotels öffneten, wenn überhaupt, nur am Abend, in der Hoffnung, wenigstens Abendessen verkaufen zu können. Irgendwann, gefühlt in jedem zweiten Ort, riet man mir dann auch, die Reise abzubrechen und umzukehren.
Freundliche Warnung
In dem Ort Pons übernachtet ich einer Herberge, die sich im Gebäude des ehemaligen Pilger-Hospitals befindet, dem einzigen erhaltenen Bauwerk seiner Art am mittelalterlichen Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Ein Monument historique und UNESCO Weltkulturerbe.
Es sah wieder nach einem langsamen Tempo an einem dieser heißen Sommertage aus. „Bei diesem Wetter hätte jede Eile etwas grob-selbstzerstörerisches“, dachte ich. Und dann tat ich es doch. Musste es tun. Auf der Etappe von Pons nach Mirambeau, startete ich wieder einmal mit dem flauen Gefühl in den Tag, noch keine Unterkunft gefunden zu haben. Der freundliche Herr in der Touristeninformation in Pons, hatte mich noch gewarnt, dass gerade diese Etappe schwierig werden könnte, da auch in normalen Jahren, nur sehr wenige Unterkünfte zur Verfügung stünden.
Nachdem ich aufbrach, telefonierte ich mit den wenigen bislang noch nicht kontaktierten Gites (Eine einfache Unterkunftsform), Hostels und Hotels. Bis Mittag waren alle Unterkünfte in und um Mirambeau, kontaktiert. Die Auswahl an bislang nicht kontaktierten Unterkünften schmolz besorgniserregend dahin. Innere Unruhe machte sich breit. Bisher gab es nur Absagen, wenn ich überhaupt jemanden erreichte. Langsam wurde es ernst. Es war bereits nach Mittag und ich hatte noch immer keine Unterkunft.
Das letzte Telefonat. Von einer hilfsbereiten Herbergs-Betreiberin, deren Herberge ebenfalls geschlossen hatte, erhielt ich eine Telefonnummer eines befreundeten Hotels. Meine letzte Hoffnung. Als ich im Hotel anrief und sogar jemanden erreichte, erklärte mir die Dame am Telefon, dass das Hotel aktuell geschlossen hätte und man keine Gäste aufnehmen würde. Nachdem sie jedoch Rücksprache mit dem Inhaber des Hotels gehalten hatte, der zufällig vor Ort war und der irgendeine Verbindung zum Pilgern hatte – was für ein doppeltes Glück! – machten sie eine Ausnahme. Jedoch müsste ich bis 18 Uhr am Hotel sein. Alternativlos sagte ich zu.
Bon Courage
Vor mir lagen etwas mehr als 15 km. In weniger als drei Stunden musste ich im Hotel sein. An diesem Tag erreichten die Temperaturen wieder 30 Grad und mehr, auch wenn es bereits September war. Alles hat seine Zeit. Und jetzt war nicht der Moment für Umwege oder Weg-Experimente, jetzt war der klare Fokus gefordert. Rock´n Roll. An einer Straße versuchte ich mein Glück, per Anhalter mitzufahren. Nur, wer nahm zu dieser Zeit schon einen Fremden mit, dazu noch einen durchgeschwitzten Pilger. Es fühlte sich an, als ob ich unsichtbar gewesen wäre. Und so blieben die Versuche, per Anhalter mitzufahren, erfolglos.
In der Hoffnung, dass sich doch einer der Autofahrer erbarmen würde, lief ich weiter an dieser Straße entlang. Der Raum hinter den Leitplanken war vollkommen zugewachsen und verwuchert – kein Durchkommen. Somit war es ein kleiner-großer Nervenkitzel, auf dieser Straße unterwegs zu sein. Noch lange spürte ich das Dröhnen und die starke Druckwelle, die entstand, wenn ein Lkw wenige Zentimeter an mir vorbeirauschte, dass die Hosenbeine zitterten und man selbst bedrohlich schwankte.
Mirambeau. Kurz nach 18 Uhr. Ein sichtlich gezeichneter Pilger taumelte benommen durch die Eingangstür des Hotels und ließ sich auf den erstbesten Stuhl fallen, den er sah. Schwer atmend, mit trockenem Mund, hochrotem Kopf und verschwommenen Blick stellte er sich vor. Sämtliche Wasservorräte waren schon vor langer Zeit aufgebraucht. Selbst Schweiß war nicht mehr vorhanden – dafür eine ordentliche Salzschicht auf der Haut. Wahrscheinlich hätte er es keine 500 Meter gehend mehr geschafft. Zum Glück stand das Hotel an der Stelle, an der es stand.
Aber ich hatte ein Zimmer und höchstwahrscheinlich eines der ganz wenigen überhaupt in dieser Gegend. Neben dem Stempel schrieb die freundliche Dame am Empfang noch einen handschriftlichen Gruß dazu „Bon Courage“ steht seit diesem Tag über dem Stempel im Pilgerheft. Beides würde ich noch gut gebrauchen können. Auch hier gab es wieder ein inzwischen vertrautes Bild, nämlich die gesamte Unterkunft, das gesamte Hotel, nur für mich zu haben. Selbst die wegen Corona und aus hygienischen Gründen komplett in Plastikfolie gehüllte Rezeption war nach wenigen Minuten nicht mehr besetzt. Die in Folie gehüllten Rezeptionen und Kartenlesegeräte gehörten auf dem Weg Frankreich dazu.

Dirk Naumann, geboren und aufgewachsen in Torgau / Sachsen, lebt nach Stationen in Düsseldorf und Monaco heute in München. 2020, während der Pandemie, brach er auf, zu einer mehr als 3.600 Kilometerlangen Pilgerreise durch vier Länder Westeuropas. Zu Fuß, ohne Vorbereitung und Erfahrung. Aus den Notizen dieser Reise entstand ein persönliches Buch, dass gleichzeitig seine Premiere als Autor darstellt.