Dirk Naumann
Stoked by Nazaré
Das Geschrei der Möwen und der salzige Geruch des Meeres kündigten es an – nur eine Kurve noch – und dann – der blaue Atlantik zu unseren Füßen. Überglücklich und beseelt von kindlicher Freude rannten wir zum Strand – mit unseren schweren Rucksäcken auf dem Rücken und ausgebreiteten Armen, bereit, das Meer zu umarmen. Ein Sprung von der Promenade, hinunter auf den Strand. Jubelschreie, unbeschreibliche Freude. Wir sind in Nazaré, Wallfahrtsort, Sehnsuchtsort vieler Surfer – und heute unser Sehnsuchtsort. Vor uns nur noch stahlblauer Himmel, Wellenrauschen und der weite Atlantik.
Nazaré, das ist der Ort mit den weltweit höchsten Wellen. Am Nordstrand, dem berühmten Praia do Norte, brechen die Wellen bis zu 30 Meter und höher – so hoch wie ein zehnstöckiges Haus. Die Wellen Nazarés, Berge voller Wassermassen. Manche sagen, sie seien der Mount Everest für Surfer. 2017 surfte Rodrigo Koxa, ein brasilianischer Surfer, hier eine 80 Fuß – 24,38 Meter hohe Welle. Weltrekord. Nur um von, Sebastian Steudtner, einem Big-Wave-Surfer, 2020 übertroffen zu werden, als er auf einer 26 Meter hohen Welle ritt und 2024 seinen eigenen Rekord brach und eine 28 Meter hohe Welle surfte. Auch Rekorde sind nur Momentaufnahmen.
Wie überall, so war es auch in Nazaré sehr ruhig. Stadt und Strand waren leer. Keine Spuren im Sand. Nur vereinzelt waren einige Passanten oder Surfer zu sehen. Es ist Nebensaison und vor allem – Pandemie. Auch hier begleitete einen das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. In einer kleinen Bar, direkt am Strand, mit einer Flasche Super Bock-Bier, in der Hand, wir waren die einzigen Gäste hier, genossen wir die Sonne, das Rauschen der Wellen, die entspannte Atmosphäre. Massimo nutzte den Moment und hielt seine Eindrücke in einem Notizbuch fest, das er mit vielen Farben und kreativen Zeichnungen führte; ich telefonierte voller schwärmerischer Glücksgefühle und unendlicher Dankbarkeit mit Familie und Freunden.
Jemand saß auf einem der Balkone, die dem Meer zugewandt sind, und arbeitete an seinem Computer. Ein Gedanke beschäftigte mich ernsthaft und intensiv –
„Was, wenn ich einfach hierbleibe? Hier bleibe und nicht zurückkehre?“ Hier in Nazaré, hatte ich zum ersten Mal den Gedanken, aussteigen zu wollen. Ein weiterer Meilenstein und wesentlicher Moment der Reise. Weitergehen oder bleiben? Es stand wieder einmal eine richtungsweisende Entscheidung an.
Zuko Nature
Am nächsten Tag freuten wir uns auf ein sonniges Nazaré. Doch an diesem Tag zogen Nebelschwaden wellenartig vom Meer herüber und verhüllten in mehreren Schichten die Umgebung. Heute war der Nebel stärker als die Sonne und er gab Nazaré eine fast mystische Atmosphäre. In dieser Stimmung begegneten wir einigen Campern, die auf dem kleinen Parkplatz, der sich auf dem Felsplateau befindet und zwischen Leuchtturm und die Wallfahrtskirche Santuário de Nossa Senhora da Nazaré, liegt, einen Platz gefunden haben. Jeder von ihnen hatte seine eigene und besondere Geschichte zu erzählen.
Eine Einmann-Band, Zuko-Nature, spielte magische Musik. Er saß in den Dünen auf dem Weg zum Leuchtturm, sang und spielte Gitarre. Ein italienischer Surfer und ich, ein deutscher Pilger, waren die einzigen Zuhörer. Beide genossen wir das exklusive und magische Konzert. Stundenlang hätte ich ihm zuhören können. Der Wind, die Wellen, diese Musik. Moment – verweile doch. Die Energie dieses Augenblicks klingt bis heute in mir nach. Es gibt diese Momente, die einen eintauchen lassen in eine völlig andere Welt.
Jetzt, da das Herz weit offen ist, fühlt man es ganz tief in seinem Inneren. Am liebsten hätte ich dieses Gefühl konserviert und aufbewahrt, um es zu anderen Zeiten und bei Bedarf schlückchenweise wieder abrufen zu können. Manchmal, wenigstens für eine Weile, tauche ich gedanklich wieder ein in diese Welt, nur um mich daran zu erinnern, wie frei man sich fühlen kann. Hier in Nazaré, dem Ort der Wellen, der magischen Musik von Zuko-Nature, ist ein Teil von mir geblieben.
Astrid, eine deutsche Camperin, der wir zufällig auf dem Parkplatz begegneten und mit der wir uns angefreundet hatten, bot an, gemeinsam nach Peniche, einem weiteren Surfhotspot weiter im Süden zufahren. Auch wenn mich der Gedanke, in Nazaré zu bleiben und nicht zurückzukehren, intensiv beschäftigte, nahmen wir dieses Angebot dankend an – und waren, am nächsten Tag, im Camper auf dem Weg nach Peniche. Für den Ausstieg war die Zeit noch nicht reif.
Bis bald, Naza! Ich komme wieder. Ganz bestimmt.
Ein Wiedersehen
Galerie / letztes Bild: Drei Jahre später, im November 2023, führte mich der Weg wieder nach Nazaré. Dort tauschte ich mich mit Zuko Nature aus.

Dirk Naumann, geboren und aufgewachsen in Torgau / Sachsen, lebt nach Stationen in Düsseldorf und Monaco heute in München. 2020, während der Pandemie, brach er auf, zu einer mehr als 3.600 Kilometerlangen Pilgerreise durch vier Länder Westeuropas. Zu Fuß, ohne Vorbereitung und Erfahrung. Aus den Notizen dieser Reise entstand ein persönliches Buch, dass gleichzeitig seine Premiere als Autor darstellt.