Dirk Naumann
Porto – Stadt am Douro
Brücke Dom Luis I. – Wenn man still war, vernahmen wir einen Fado vom anderen Ufer des Douro. Der Wind trug die Stimme des Sängers und den Klang der Gitarre sanft zu uns hinüber. Mal kräftig, mal flüsternd. Je nachdem, wie intensiv der Wind wehte. Die Lichter der gegenüberliegenden Fenster und der Straßenbeleuchtung spiegelten sich dezent-schillernd als Lichtkegel im Fluss. Portwein-Boote, die typischen Rabelos, lagen fest verankert am Ufer. Langsam und still wiegten sie sich im Wasser.
„Wie dunkle Silhouetten in einem Gemälde“ – dachte ich mir. Ein riesiges, stimmungsvolles Gemälde mit Fado-Begleitung. Wenig später und nach Überqueren des Douro waren Massimo und ich, selbst Teil dieses Gemäldes. Wir erreichten die kleine Bar mit dem Fado-Sänger. Die Tische waren mit weißen Tischdecken eingedeckt, die auf Gäste warteten. Heute keine Gäste hier. Der Fado-Sänger spielte also nur für sich und für uns zwei. In einer Pause, in der er lässig an der Wand lehnte und genüsslich ein Zigarillo rauchte, kamen wir mit ihm ins Gespräch. Massimo sprach Portugiesisch, was den Austausch leichter machte.
Der Fado-Spieler empfahl uns eine kleine Bar für Künstler und Poeten, irgendwo in der Innenstadt, die Penguim Bar. Eine der wenigen Bars, die überhaupt geöffnet hatten. Er selbst käme später noch hinzu. Dankend nahmen wir seine Empfehlung an und erreichten wenig später, nachdem wir durch die dunklen Gassen Portos gelaufen waren, auch besagte Bar, die von außen recht unscheinbar erschien.
Faith over Fear
Gemälde mit moderner Kunst hingen an den Wänden dieses Raums. Die anwesenden Gäste waren entspannt-heiter und man konnte ihre Gesichter sehen. Ganze Gesichter, ohne Maske. Keine Selbstverständlichkeit in den vergangenen Monaten. Lässige, experimentelle Musik spielte durch den Raum und nahm uns mit, in eine andere Welt.
Massimo erwähnte, dass er sich freue, hier zu sein und seinen Geburtstag an einem Ort wie diesem feiern zu können. Wir bestellten Geburtstags-Gin Tonics – plus eins – denn im Moment der Bestellung betrat unser Fado-Spieler die Bar. Jeder kannte ihn, er kannte jeden hier. Somit waren wir nun auch Teil der Familie.
An jenem Abend fand hier eine Veranstaltung statt, an der sich die Anwesenden aktiv beteiligen konnten. Und so fasste sich M. ein Herz und sprang mutig über seinen Schatten. Zu seinem Geburtstag wollte er endlich etwas tun, wovor er immer die größte Angst hatte – nämlich sich auf offener Bühne, vor vielen Menschen zu präsentieren, freizusprechen.
„Der Weg ist da, wo die Angst am größten ist – Faith over Fear“ – flüsterte er mir noch zu, bevor er die Bühne betrat. Bisher unausgesprochen, war dies irgendwie auch mein Motto für den Weg. Dann trug er ein Gedicht vor, auf Deutsch, welches ihn schon die gesamte Zeit begleitete. „Es ist, was es ist, sagt die Liebe“ von Erich Fried. Die Belohnung? Großer Applaus. Vor allem und viel wichtiger jedoch – ein Triumph über seine größte Angst. Auch der bisherige Weg hatte maßgeblich zu dieser Veränderung beigetragen. So eine Reise verändert jeden.
Es ist, was es ist – von Erich Fried
„Es ist Unsinn, sagt die Vernunft. Es ist, was es ist, sagt die Liebe. Es ist Unglück, sagt die Berechnung. Es ist nichts als Schmerz, sagt die Angst. Es ist aussichtslos, sagt die Einsicht. Es ist, was es ist, sagt die Liebe. Es ist lächerlich, sagt der Stolz. Es ist leichtsinnig, sagt die Vorsicht. Es ist unmöglich, sagt die Erfahrung. Es ist, was es ist, sagt die Liebe.“
Kaleidoskop
Porto, die alte Hafenstadt am Duoro, ist immer eine Entdeckung wert. Vom ersten Moment an wusste ich, dass ich diese Stadt mögen werde. Nach grauen Tagen mit viel Regen zeigte sich die Sonne und ließ Porto im schönsten Licht erstrahlen. Auf einem kleinen Platz mit einer winzigen Bar, vor der zwei Stühle und ein Tisch standen, in direkter Nachbarschaft zur Kathedrale, machten wir eine Pause. Bei einem Glas Vinho Tinto genossen wir den Moment und fühlten uns wie die „Übrig-gebliebenen“. Alle Pilger, mit denen wir den bisherigen Weg gegangen waren, befanden sich bereits wieder in ihrer Heimat.
Möwen kreisten kreischend über unseren Köpfen. Ein Saxofon-Spieler spielte schöne Melodien. Der Klang des Instruments, der Takt der Stadt und das Geschrei der Möwen vermischten sich zu einer einzigartigen Energie. Die milde Novembersonne mit ihren 16 Grad wärmte uns angenehm.
Mir kam das Bild eines Kaleidoskops in den Sinn. Aus einem Punkt wird ein Kosmos voller Verbindungen. Mit jeder Drehung, jeder Entscheidung, jeder neuen Perspektive entsteht ein vollkommen neues Universum sich ständig verändernder Möglichkeiten. Filigrane Strukturen, manchmal nur am Rand, manchmal im Zentrum. Manchmal kaum wahrnehmbar, manchmal radikal. Ein Kaleidoskop wie das Leben. Vor nicht einmal sechs Monaten wäre dieser Lebensstil für mich undenkbar gewesen. Nun erlebte ich bewusst diese Veränderung. Dinge können sich schnell ändern. Hoffentlich bleibt auch nach der Reise ein wenig von dieser Energie.
Livraria Lello & São Bento
Viele Sehenswürdigkeiten in Porto hatten wir fast ausschließlich für uns. Die berühmte und unbedingt sehenswerte Bibliothek „Livraria Lello“, die zu den schönsten Buchläden Europas gezählt wird, war beispielsweise menschenleer. Keine Schlange vor dem Eingang. Zeit und Raum, sich in aller Ruhe inspirieren zu lassen. Fast zwei Stunden verbrachte ich dort, ohne es zu merken. Mit einer in rotes Leinen gebundenen Ausgabe des „Zauberes von Oz“ und der „Lusiaden“, einem klassischen Werk portugiesischer Literatur, verließ ich die Bibliothek.
Am Bahnhof, São Bento, der einmal ein Kloster war und dessen Inneres mit schönsten blau-weißen Keramikfliesen, den berühmten Azulejos verziert ist, begegneten wir Arthur, einem deutschen Rad-Pilger. Ihm waren wir bereits in Santiago de Compostela begegnet. Auch wenn wir uns dort voneinander verabschiedet hatten – hier, vor dem Bahnhof, trafen wir ihn wieder. Was für ein schöner Zufall.

Dirk Naumann, geboren und aufgewachsen in Torgau / Sachsen, lebt nach Stationen in Düsseldorf und Monaco heute in München. 2020, während der Pandemie, brach er auf, zu einer mehr als 3.600 Kilometerlangen Pilgerreise durch vier Länder Westeuropas. Zu Fuß, ohne Vorbereitung und Erfahrung. Aus den Notizen dieser Reise entstand ein persönliches Buch, dass gleichzeitig seine Premiere als Autor darstellt.