Dirk Naumann
Martin von Tours & Mantelteilung
Mit heiserer Stimme erreichte ich die historische Stadt Tours, im Herzen des Loire-Tals. Namensgeber der Via Turonensis, Stadt des Heiligen Martins. Bekannt für die Geschichte der Mantelteilung, ist der heilige Martin einer der bekanntesten Heiligen der Christenheit. Als ich mir die Geschichte mit der Mantelteilung vorstellte, erschien sie mir heute genauso aktuell wie eh und je. Anderen helfen, selbst oder gerade, weil man bequem auf einem hohen Pferd sitzt. Oftmals ist es glücklichen Umständen zu verdanken, an welchem Ort, an welcher Stelle man sich im Leben befindet.
Tours war im Mittelalter Hauptstadt des französischen Königreiches und ein bedeutendes Pilgerzentrum. Ich erinnerte mich an die Empfehlung der freundlichen Nonne in Paris, mir Zeit zu nehmen und nach Tours zu gehen – und reservierte einen Tag vor meiner Ankunft eine Unterkunft in der Basilika Saint-Martin, in sich der auch die Grabstätte des Heiligen Martins befindet. Dort angekommen wurde ich, inzwischen ein normaler Zustand, an den ich mich aber nicht gewöhnen wollte, der einzige Pilger seit Tagen zu sein, von einer Nonne empfangen und erhielt ein Bett direkt im Gästetrakt der Basilika.
Gesungenes Gebet
Nach dem Abendessen, welches im Speisesaal eingenommen wurde, in dem auch die Schwestern speisten, kam ich in den unerwarteten Genuss eines gesungenen Abendgebetes. Eine der Schwestern, Soeur Monique, trat an den Tisch und fragte mich freundlich, ob sie ein Gebet auf Französisch für mich singen dürfte. Erst war ich verunsichert, dann ließ ich es zu und genoss, tief berührt, diesen Moment. Wie hätte ich auch ablehnen können? Es war eines dieser einmaligen und nicht in Worte zufassenden Ereignisse. Und so stand sie da, direkt neben meinem Tisch, im Speisesaal, gekleidet im Habit einer Nonne und sang in hohen Tönen. Noch heute hallt dieser Moment inklusive Gänsehaut in mir nach.
Vor der Kathedrale traf ich den zweiten Pilger auf meiner Route durch Frankreich. Ein junger Franzose, dessen Reise in der Normandie am Mont-Saint-Michel begann, jedoch in Tours endete. Sehr schade, denn ich hätte mir mehr als einmal gewünscht, wenigstens für einen Teil des Weges Begleitung zu haben. So trennten sich unsere Wege nach einem kurzen Gespräch wieder.
Keine Informationen
Noch immer war ich ohne einen echten Wanderführer unterwegs. „Wenn dieser Weg schon nach der Stadt Tours benannt ist, so gibt es hier bestimmt aktuelle Informationen“, so hoffte ich. Hoffnungsfroh ging es in die verschiedenen Buchläden und das Tourismusbüro der Stadt. Jedoch – niemand konnte mir Mitte 2020 aktuelle Informationen zur Via Turonensis mitteilen. So blieb mir nur der Weg nach vorn, also den Weg mit den wenigen, vorhandenen Informationen in Richtung Poitiers fortzusetzen, dass ich in ein paar Tagesetappen zu erreichen hoffte. Den Weg teilte ich ein, in einzelne, nochmals kleinere Abschnitte als zuvor, die ich Stück für Stück zu erreichen hoffte.
Die nächsten Meilensteine waren, Sainte-Maure de Touraine, die Stadt des gleichnamigen, berühmten Ziegenkäses und die tausendjährige Stadt Châtellerault. An ein größeres Ziel hätte ich nicht mehr geglaubt, aber kleine Abschnitte konnte ich mir – noch – vorstellen. Aufgrund der sich weiter verschärfenden Corona-Einschränkungen im ganzen Land konnten sich die Umstände täglich ändern und die Reise zu Ende sein. Ständig diese Bedenken, dass auch die letzten noch geöffneten Hotels oder Kathedralen wieder geschlossen sein, die Gendarmerie oder die Polizei mich nach Hause schicken könnte. Inzwischen hatte ich auch öfter das Gefühl, dass Polizei & Gendarmerie, denen ich von Zeit zu Zeit begegnete, noch langsamer an mir vorbeifuhren und ihre Blicke noch durchdringender und prüfender waren. In diesen Momenten fühlte ich mich unangenehm beobachtet – wie ertappt. Aber ich lief weiter – und wollte alles versuchen, was möglich ist. Prüfende Blicke hin oder her.

Dirk Naumann, geboren und aufgewachsen in Torgau / Sachsen, lebt nach Stationen in Düsseldorf und Monaco heute in München. 2020, während der Pandemie, brach er auf, zu einer mehr als 3.600 Kilometerlangen Pilgerreise durch vier Länder Westeuropas. Zu Fuß, ohne Vorbereitung und Erfahrung. Aus den Notizen dieser Reise entstand ein persönliches Buch, dass gleichzeitig seine Premiere als Autor darstellt.