Deutschland
Ökumenischer Pilgerweg
(Via Regia – Abschnitt im Osten Deutschlands)
Sachsen / Sachsen-Anhalt / Thüringen
Nach Jahren im Ausland und in anderen Regionen Deutschlands wurde es Zeit, die eigene Heimat, den Osten Deutschlands, wirklich kennenzulernen. Zu Fuß. Wie bereits Goethe wusste, „Nur wo Du zu Fuß warst, bist Du auch wirklich gewesen.“ Und so führte der Weg einmal quer durch die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – von Görlitz nach Eisenach / Vacha.
Wie schön doch der Osten Deutschlands ist! 450 km Via Regia bedeuten – Natur, Kultur, Genuss und Geschichte. Die Via Regia ist die älteste und längste Landverbindung zwischen Ost- und Westeuropa. Sie ist Europas Kulturroute, Straße der Könige, Straße der Ritter, Straße der Pilger. Sie hat mit mehr als 2.000- jähriger Geschichte sehr viel zu erzählen. Burgen, Schlösser, Klöster und Herrenhäuser sind Zeugen dieser Zeiten und längst vergangener, auch glorreicherer Epochen.
Diese Strecke bietet zudem fantastische Natur mit teils unberührten Landschaften. Und sie ist perfekt geeignet für Anfänger und / oder Radfahrer, da sie weitestgehend flach verläuft. In Vacha, dem Ende des Ökumenischen Pilgerweges und des Ostdeutschen Abschnittes der Via Regia, gab es sogar eine kleine Pilgerurkunde. Meine erste auf diesem Weg.
Feststellung: Wer den Osten Deutschlands nur auf seine jüngste Vergangenheit reduziert, dem entgeht unfassbar viel. Denn gemessen an den tausenden Jahren davor, fühlt sich diese Epoche winzig an.
Elisabethpfad 2
Hessen
Noch auf der Via Regia, erreichte mich eine dezente Nachfrage meiner Nichte Dominique, die in Marburg studiert. Falls ich noch nicht müde bin, würde sie sich sehr freuen, wenn ich sie in ihrer Stadt besuchen kommen würde.
„Hey, ich bin Dein Onkel. Ich gebe doch nicht auf!“, dachte ich mir. „Die 190 km schaffe ich auch noch.“ Und so führte der Weg, nachdem Vacha erreicht war, zurück nach Eisenach und von dort auf dem Elisabethpfad 2 nach Marburg. Dort traf ich Dominique und verabredete ich mich auch mit Harald, einem Pilger aus Marburg. Einige Tage zuvor hatten wir uns auf dem Elisabethpfad kennengelernt.
Bereits nach dem Verlassen von Eisenach / Vacha und der Fortsetzung der Reise nach Marburg spürte ich zum ersten Mal den „Forrest Gump“ in mir. Er sollte fortan mein ständiger Begleiter werden. Noch hatte ich keine Vorstellung davon, wohin er mich führen sollte…
Lahn-Camino
Hessen / Rheinland-Pfalz
Später fragte auch mein Bruder, ob wir vielleicht gemeinsam den Mosel-Camino von Koblenz nach Trier pilgern wollten. Koblenz? Wie kommt man denn von Marburg nach Koblenz? Klar, einfach ab Wetzlar die 140 km auf dem Lahn-Camino nach Koblenz laufen – flüsterte mein innerer „Forrest Gump“ zu mir. So sollte es sein.
Mosel-Camino
Rheinland-Pfalz
Für den Mosel-Camino tauchte ich in die „Ultra-light-Welt“ ein und tauschte den großen Rucksack gegen eine deutlich leichtere Ausrüstung. Und so liefen beide Brüder den Mosel-Camino „ultra-light“.
Am ersten Tag schafften wir entspannt 40km, also zwei Etappen an einem Tag. Was für eine Erfahrung! Aber auch mein Bruder lernte etwas dazu. Er befestigte eine „schwere“ Muschel an seinem ultra-leichten Rucksack, was wiederum seine Wahrnehmung grundlegend änderte. Denn die Muschel macht den Unterschied.
In Trier angekommen erhielten wir im Pilgerbüro in der Dom-Information, gegenüber des Trierer Doms, unsere Pilgerurkunden. Auch plante ich, ob und wie es weitergeht. Um eine Entscheidung zwischen den vielen Möglichkeiten zu treffen, folgte ich einmal mehr meinem ersten Impuls. Dieser sollte nach Paris führen.
Frankreich
Grand Est / Marne
In der Champagne wurde ich für ein Wochenende zum Luxus-Pilger, denn ich folgte einer Einladung der Familie meines Bruders, ein entspanntes Champagner-Wochenende mit ihnen zu verbringen. Wie könnte man da ablehnen?
Später ging es weiter nach Paris, meinem ersten Impuls folgend. Am Arc de Triomphe überzeugte ich mich davon, ob eine Legende stimmt. Dort schloss sich ein Kreis, der im Osten Deutschlands begann und in Paris endete.
Kurz vor Ankunft in Paris wurde die Stadt zur „roten Zone“, also zum Covid-Risikogebiet, erklärt. Daher verließ ich die französische Hauptstadt bereits am nächsten Tag.
Via Turonensis / GR 655
(Französischer Abschnitt der Via Regia)
Île-de-France / Centre-Val de Loire / Nouvelle-Aquitaine / Okzitanien
Von Paris ging es weiter, der Via Turonensis / GR 655 folgend, über Orléans, Tours, Poitiers, Saintes/ Cognac, Bordeaux, Dax bis Saint Jean Pied de Port. Ab Paris verschärften sämtliche Régions und Départements nach und nach die Regeln. Immer öfter konnte nur noch von Tag zu Tag geplant werden.
Obwohl die Via Turonensis einer der ältesten Pilgerrouten durch Frankreich ist, genießt sie aktuell eine vergleichsweise geringe Popularität. Nur ein Reiseführer – und der auch noch mit lange überholten Angaben – war erhältlich. Kein Vergleich zu den aktuell sehr beliebten Routen über Le Puy-en-Velay oder Vézelay.
1.500 Kilometer – drei (3) Pilger
Gefühlt in jedem zweiten Ort rieten die Menschen abzubrechen und umzukehren. Etliche Herbergen, Kirchen, Klöster, ja selbst Hotels oder Tourismusbüros, hatten geschlossen. Hotels machten nur am Abend auf, in der Hoffnung, wenigstens Abendessen verkaufen zu können.
In den Tourismus-Büros der größeren Städte konnte man nur selten weiterhelfen. Selbst im Internet gab verhältnismäßig wenige Daten zu diesem Weg. Die Begegnung mit insgesamt drei (3) Pilgern auf fast 1.500 km durch Frankreich sprechen eine deutliche Sprache.
Pilger Nummer eins begegnete ich in Reims. Dieser hatte jedoch Rom als Ziel. Daher trennten sich unsere Wege bereits am selben Tag wieder. Pilger Nummer zwei begegnete mir in Tours. Dieser kam aus dem Norden, genauer aus der Normandie, vom Le Mont-Saint-Michel. Seine Reise endete in Tours. Dem dritten Pilger begegnete ich erst hinter Bordeaux, genauer in Gradignan. Mit ihm lief ich drei Tagesetappen, bevor sich unsere Wege trennten.
Lourdes
Da es immer unklarer wurde, ob es überhaupt ein Weiterkommen geben würde und um nicht irgendwo im Nirgendwo die Reise zu beenden, wählte ich den berühmten Wallfahrtsort Lourdes als Ziel und Ende meiner Reise.
Lourdes befindet sich nicht auf der Via Turonensis, sondern etwas abseits, am GR78 gelegen. Ich habe es nach Lourdes geschafft, dort gebetet, Kerzen entzündet und der Lichterprozession beigewohnt. Sogar eine Pilgerurkunde erhielt ich dort.
Der Meilenstein
Auf dem Weg nach Lourdes jedoch erlebte ich meinen persönlichen Schlüsselmoment, der alles verändern sollte. In Moustey, einem kleinen Ort im Département Landes, irgendwo zwischen Bordeaux und Dax, entdeckte ich vor der dortigen Kirche einen Kilometerstein. „Moustey – Compostella – 1000“ – war dort eingraviert. Zu diesem Zeitpunkt lagen bereits mehr als 2.000 km hinter mir.
Für mich war dieser Kilometerstein ein Zeichen, der nicht zufällig dort stand. Mir war klar; ich muss weiterlaufen. Ich kann und darf nicht abbrechen. Diese 1.000 km schaffe ich auch noch. Und so hatte ich ein neues Ziel – Santiago de Compostela.
Lehrreichste Zeit
Rückblickend war gerade der Weg durch Frankreich die lehrreichste Zeit der gesamten Reise. Frankreich war größte Herausforderung, einsam und wunderschön. Am Ende aber siegte immer der Wille und der Wunsch weiterzumachen – bis es wirklich nicht mehr geht. Wohl auch aus diesem Grund sind die Erlebnisse und Erinnerungen aus Frankreich noch intensiver und präsenter.
Feststellung: Was ich erst später bemerkte: Verließ ich hinter Eisenach die Via Regia, stieß ich in Paris wieder auf diese Route. Sie sollte mich bis nach Santiago de Compostela führen. Denn sowohl die Pilgerwege Via Turonensis in Frankreich, als auch der Camino Frances in Spanien, sind Teile der Via Regia – der ältesten und längsten Landverbindung zwischen Ost- und Westeuropa. Ich folgte also mehr als 2.000 Jahre alter Geschichte. Eine Pilger-, Genuss- und Kulturreise – auf dem Weg der Könige, der Ritter, der Pilger.
Spanien
Und nun also Spanien. Ohne Reiseführer, ohne ein Wort Spanisch zu sprechen. Spanien war gar nicht geplant. Die Entscheidung fiel schnell auf den wohl bekanntesten Weg und den Mythos schlechthin, den Camino Frances.
Camino Frances
(Spanischer Abschnitt der Via Regia)
Auch hier spürte man die Corona-Angst. Vor Eintreten in die Herbergen digitales Fiebermessen, Desinfektion der Schuhe, des Rucksacks usw. Abgesperrte Bäder, Küchen, Gemeinschaftsräume, reduzierte Kapazitäten. Mehr als die Hälfte der Herbergen waren komplett geschlossen.
Ist es in normalen Jahren gar nicht möglich, vorab eine Herberge zu reservieren, so war es nun unumgänglich. Begrenzte Kapazitäten, geschlossene Herbergen, Bars und Restaurants überall. Ganze Gebiete und Städte wurden kurz nach dem Durchqueren abgeriegelt. Jeden Tag gab es neue, teils vollkommen verschiedene Informationen. Jeden Tag musste neu geplant werden.
Marathon Man
Um es rechtzeitig nach Santiago zu schaffen, wurden an manchen Tagen Etappen bis zu 40 km zum Marathon. Die letzten 450 km, von Burgos nach Santiago, gab es keinen Tag Pause mehr. Das entspricht der Strecke des Ökumenischen Pilgerweges bzw. des ostdeutschen Abschnittes der Via Regia, der anfangs das eigentliche Ziel war.
Santiago de Compostela
Die letzten Tage vor dem Erreichen von Santiago de Compostela schleppte ich mich von Tag zu Tag. Eine starke Erkältung und ich rangen intensiv um die Oberhand. Erst in dem Moment, in dem ich mit wenigen Mitpilgern auf dem leeren Platz vor der Kathedrale stand, habe ich begriffen, welcher Weg, welche Strecke hinter mir liegt.
Im wie leergefegten Pilgerbüro, an diesem Tag war ich Pilger Nr. 50 von nur 84, bestätigte man mir 3.300 gelaufene Kilometer. Zum ersten Mal sah ich nun diese Zahl – schwarz auf weiß – vor mir. Festgehalten auf dem Certificate of Distance.
Nach dem Verlassen des Pilgerbüros wollten auf mich wartende Mitpilger wissen, wie ich mich fühle. Ich konnte nur antworten: „Sie haben mir…“ – Dann brach es aus mir heraus. Vollkommen ungefiltert. Überwältigt von Gefühlen ließ ich meinen Tränen freien Lauf.
Alles anders
In Santiago de Compostela herrschte keine feierliche Stimmung. Sonst wahrscheinlich ein Ort des Glücks und der Lebensfreude war die Stadt praktisch leer. Es lag nur ein grauer, wolkenverhangener und verregneter Himmel über der Stadt. Viele Geschäfte und Bars hatten schon lange geschlossen.
Die meisten der ohnehin wenigen Pilger und Touristen reisten wegen der sich verschärfenden, nicht einzuschätzenden Corona-Situation in Europa zügig wieder zurück. Auch wenn ich ebenfalls intensiv mit dem Gedanken der sofortigen Rückkehr spielte – nach vielen Monaten auf Pilgerschaft wollte und konnte ich nicht einfach ins Flugzeug steigen und innerhalb von wenigen Stunden zurück sein. Und so entschied ich mich, nach einigem Hin und Her, und einigen Tagen der Regeneration, den Weg Freestyle und nicht mehr ausschließlich zu Fuß fortzusetzen.
Feststellung:
Die Corona-Pandemie hat gerade im Jahr 2020 zu einem gravierenden Rückgang der Pilgerzahlen auf dem Jakobsweg geführt.
Konkret bedeutet das, dass die Pilgerzahlen des Gesamtjahres 2020 ziemlich genau denen des Monat Juli 2019 entsprachen. Gesamtjahr 2020: 54.143 vs. Monat Juli 2019: 53.319.
Zudem setzte Corona das Niveau der Pilgeranzahl um ganze 20 Jahre zurück. Die Pilgerzahlen aus dem Jahr 2020 entsprachen ca. denen des Jahres 2000. Jahr 2020: 54.143 vs. Jahr 2000: 55.004.
Bis einschließlich Juli 2021 wurden 54.374 Pilger in Santiago de Compostela registriert. Das entspricht annähernd dem Niveau des Gesamtjahres 2020. 2021 (Jan-Juli): 54.374 vs. Gesamtjahr 2020: 54.143.
Portugal
Freestyler
Aufgrund der sich zuspitzenden und unklaren Corona-Situation in Spanien und Europa überhaupt und um kein Risiko einzugehen, entschied ich mich, nur wenige Tage nach meiner Ankunft in Santiago de Compostela, für wenige Euro mit dem Bus nach Porto zu fahren.
Nach einigen Tagen Porto, ging als Freestyler weiter, mal einem der Pilgerwege (Caminhos de Fátima) folgend, mal nicht, über Coimbra, Nazaré, Fátima, Lissabon bis nach Faro.
Portugal war zu diesem Zeitpunkt das einzige Land in Europa, in dem man sich noch verhältnismäßig frei bewegen konnte. Manchmal fühlte ich mich zurückversetzt wie in eine andere längst vergangene Zeit, in eine andere Epoche.
Wunderschönes Portugal
Nach Porto besuchten Massimo und ich die Weinregion um Pinhao. In einer Herberge, erhielten wir einige konkrete Empfehlungen, welche Orte und Wege unbedingt sehenswert sind. So entstand erst hier der weitere Weg Richtung Süden. Genauso wenig wie ich auf Frankreich und Spanien vorbereitet war, war ich auf Portugal vorbereitet.
Die Route führte über die Universitätsstadt Coimbra, Tomar (Stadt der Templer), den berühmten Wallfahrtsort Fatimá und dem Sehnsuchtsziel vieler Surfer – Nazaré. Nach schönen Tagen in Lissabon ging es weiter durch das wunderschöne, fast menschenleere Alentejo.
Auch wenn Massiomo und ich die Hälfte der Zeit individuel unterwegs waren, so erreichten wir am Ende fast zeitgleich Faro, jeder auf eigene Art.
Und auch das Surfen an einem der Strände habe ich versucht. Auch wenn es in diesem Leben wohl nicht zum Profi-Surfer reichen wird, ist diese Erfahrung nun auch Teil der Reise und Entwicklung. Vom Pilger zum Surfer und zurück.
Auf den verschiedenen Wegen durch Portugal, mal mit – mal ohne Fado-Begleitung, Portwein, Pastéis de Nata und de Bélem, Bacalhao – mal am Antlantik entlang oder im Landesinneren, habe ich mich in dieses wunderschöne Land, in die Gastfreundschaft und in die Mentalität der Menschen dort verliebt.
Obrigado Portugal. Auf jeden Fall werde ich wiederkommen.